ADHS
ADHS
09/25
REPORT
SOCIAL PROOF
Wir starten mit dem Thema Nummer 1: ADHS. Ein Dauerbrenner (und das zu Recht). In unserer Arbeit merken wir immer wieder: Kaum ein Thema erzeugt so viele Fragen, Resonanz und Diskussionen. Genau deshalb beginnt dieser erste Social Proof Report mit ADHS auf Social Media.
RELEVANZ DES THEMAS
ADHS ist schon länger eines der meistdiskutierten Mental-Health-Themen auf TikTok. Unter dem Hashtag #ADHD gibt es Milliarden Aufrufe. Eine Analyse der 100 meistgesehenen Videos zeigte zusammen fast 500 Millionen Views, doch weniger als die Hälfte der Inhalte entsprach den klinischen Kriterien für ADHS. Jugendliche erkennen sich in diesen Clips wieder, auch ohne Diagnose. Kommentare wie „Omg, das bin so ich!“ verdeutlichen, wie stark die Identifikation ist.
Das zeigt eine doppelte Dynamik: Einerseits wird ADHS durch Social Media enttabuisiert und für Jugendliche greifbar. Andererseits führt die Vermischung von alltäglicher Ablenkung, digitaler Überreizung und klinischer Symptomatik schnell zu Fehldeutungen. Warum aber fühlen sich so viele angesprochen? Weil ADHS-Videos nicht nur ein Krankheitsbild beschreiben, sondern auch universelle Erfahrungen in einer schnellen, reizüberladenen Welt spiegeln.
TOP-100 #ADHD VIDEOS
500 MIO.
Aufrufe gesamt
<50%
klinisch akkurat
“Omg, das bin so ich!”
- Beispielkommentar
RELEVANZ DES THEMAS
WELTWEITE REICHWEITE VON
#ADHD TIKTOK-INHALTEN
QUALITÄT VON #ADHD TIKTOK-INHALTEN
(TOP 100 VIDEOS)
INFOKASTEN
WIE FUNKTIONIERT ADHS-CONTENT AUF TIKTOK?
> Meme-Kultur = Entlastung durch Humor
Kurze, witzige Clips („POV: Du gehst fünfmal in die Küche und vergisst jedes Mal warum 😂“) schaffen Nähe und machen schwierige Erfahrungen leichter teilbar.
> Storytime = Identifikation & Nähe
Jugendliche erzählen persönliche Anekdoten. Die Form vermittelt Authentizität und wirkt glaubwürdiger als trockene Fakten.
> Selbsttests & Checklisten = vermeintliche Klarheit
„Wenn du das auch machst, hast du ADHS!“ Solche simplen Formate suggerieren schnelle Antworten, blenden aber Komplexität und Diagnosekriterien aus.
> Algorithmus-Effekt = Verstärkung durch Wiederholung
Hat man aber einmal ein Video geliked, füllt sich der ganze Feed mit ADHS-Content. Dadurch entsteht der Eindruck: „Alle haben das, also ich auch.“
PSYCHOLOGISCHE EINORDNUNG
ADHS ist ein klinisches Störungsbild, das in der Kindheit beginnt und durch anhaltende Probleme in Aufmerksamkeit, Impulskontrolle und Selbstorganisation geprägt ist. Entscheidend für die Diagnose nach DSM-5 sind Dauer (≥ 6 Monate), das Auftreten in mehreren Lebensbereichen und eine deutliche Beeinträchtigung im Alltag. Bei Jugendlichen und Erwachsenen gelten angepasste Kriterien, etwa eine niedrigere Symptomzahl.
Der Blick auf ADHS hat sich dabei historisch stark verändert: In den 1960er Jahren sprach man noch von einer „Hyperkinetischen Reaktion der Kindheit“ (DSM-II). 1980 wurde daraus ADD (DSM-III), wenige Jahre später ADHD (DSM-III-R). Mit dem DSM-5 (2013) wurde die Altersgrenze für erste Symptome auf 12 Jahre angehoben und Kriterien für Erwachsene ergänzt. Diese Entwicklung zeigt den Weg von einem sehr engen Fokus auf Hyperaktivität hin zu einem breiteren Verständnis von Aufmerksamkeits- und Selbststeuerungsproblemen.
Über Jahrzehnte war ADHS jedoch vor allem ein defizitär besetztes Label: Kinder, die „zappelig“ waren, galten als Problemfälle; Eltern mussten sich rechtfertigen; Medikamente standen im Kreuzfeuer der Debatten. Dieses Stigma wirkt bis heute nach und beeinflusst, wie Betroffene sich selbst sehen und ob sie Hilfe suchen. Kein Wunder also, dass viele Jugendliche Orientierung eher bei Peers oder auf Social Media suchen.
Gleichzeitig darf ADHS nicht verharmlost werden: Der Leidensdruck ist für viele hoch sowohl schulisch, sozial und auch familiär. Und doch zeigen Studien ebenso die anderen Seiten: Kreativität, Spontaneität, Energie, Intuition. Moderne Zugänge (inspiriert auch durch Stimmen wie Edward Hallowell) betonen deshalb, dass ADHS kein reines Defizit, sondern ein komplexes Muster von Herausforderungen und Potenzialen ist.
Genau diese doppelte Perspektive ist heute wichtiger denn je: In einer digitalen Welt, die von Reizüberflutung, Multitasking und Dauerinput geprägt ist, finden viele Jugendliche ihre eigenen Erfahrungen in ADHS-Beschreibungen auch ohne Diagnose wieder. ADHS ist damit nicht nur eine klinische Kategorie, sondern auch ein Spiegel für unseren Umgang mit Aufmerksamkeit und Leistungsdruck.
Ein ressourcenorientierter Ansatz heißt deshalb: nicht romantisieren (z.B. als „Superkraft“), aber auch nicht auf Defizite reduzieren. Es geht darum, Stärken sichtbar zu machen und gleichzeitig Alltagsfunktionalität zu fördern: in Schule, Ausbildung oder Beruf. Für Lehrkräfte und Workshopleitungen bedeutet das, Jugendlichen Strukturen und Freiräume anzubieten, die sowohl Fokus als auch Kreativität ermöglichen. Dieser Blick unterstützt nicht nur Betroffene, sondern auch eine Generation, die sich durch die digitale Lebenswelt zunehmend in ADHS-Erzählungen wiederfindet.
ADHS AUF SOCIAL MEDIA
CHANCEN, RISIKEN & ANSCHLUSSFÄHIGKEIT
ADHS ist nicht nur ein Diagnosethema, sondern online längst zu einem Kulturthema geworden. Jugendliche begegnen auf Social Media unzähligen Clips, die sich spielerisch, humorvoll oder ernsthaft mit typischen Erfahrungen befassen: Gedanken, die abschweifen, das „schnelle Verlieren des Fadens“ oder das Gefühl, gleichzeitig zu viel und zu wenig Energie zu haben.
Warum das so anschlussfähig ist:
Die Beschreibungen treffen einen Nerv, weil sie Erfahrungen benennen, die viele Jugendliche teilen. In einer Welt voller Reize, Push-Nachrichten und schulischem Druck erleben viele Jugendliche ähnliche Schwierigkeiten: Konzentration halten, Ordnung bewahren, motiviert bleiben. ADHS-Content liefert dafür eine Sprache, die zugleich erklärt und entlastet: „Es liegt nicht nur an mir, andere kennen das auch.“
Die Chancen:
Solche Inhalte können Jugendlichen helfen, sich weniger allein zu fühlen. Sie fördern ein offenes Gespräch über psychische Belastungen, machen Mut, über Schwierigkeiten zu sprechen und entstigmatisieren ein Krankheitsbild, das lange negativ behaftet war.
Die Risiken:
Die Popularität bringt aber auch Schattenseiten. Alltagsprobleme wie „aufs Handy starren“ oder „zu spät anfangen“ werden schnell mit ADHS gleichgesetzt. Das kann dazu führen, dass Jugendliche sich vorschnell selbstdiagnostizieren oder die tatsächlichen Belastungen von Betroffenen verharmlost werden. Zudem bleibt der Schritt zur professionellen Abklärung oft aus, weil Social Media als „Erklärungsort“ genügt.
Für Fachkräfte heißt das: Social Media wirkt wie ein Resonanzraum für unausgesprochene Erfahrungen. Wenn wir diesen Raum ernst nehmen, können wir Brücken schlagen: von der Meme-Kultur hin zu fundierten Gesprächen über psychische Gesundheit.
BEDEUTUNG FÜR DIE SCHULE
Wenn Jugendliche im Unterricht sagen „Ich hab das bestimmt auch, hab’s auf TikTok gesehen“, stellt das Lehrkräfte und Workshopleitungen vor eine Herausforderung. Es geht nicht darum, Diagnosen zu stellen oder Inhalte aus Social Media pauschal zu bestätigen oder zu verwerfen. Entscheidend ist vielmehr die Haltung, mit der Fachkräfte diesen Narrativen begegnen.
Erfahrungen ernst nehmen:
Wenn Jugendliche sich in ADHS-Videos wiedererkennen, steckt darin oft ein echtes Bedürfnis: gesehen zu werden, Entlastung zu finden oder Strategien für mehr Struktur im Alltag zu suchen. Hier gilt: Validierung statt Abwertung.
1
Orientierung geben:
Gleichzeitig ist wichtig, Unterschiede aufzuzeigen: ADHS ist ein klinisches Störungsbild, Konzentrationsprobleme durch digitalen Stress sind verbreitet, aber nicht dasselbe. Klarheit und Abgrenzung schützen vor Verharmlosung und Selbstdiagnosen.
2
Ressourcenorientiert arbeiten:
Viele Methoden, die ADHS-Betroffenen helfen, sind für alle Schüler*innen wertvoll: klare Strukturen, kurze Lerneinheiten, Pausenräume, Visualisierungen. Im Workshop-Kontext können diese Techniken spielerisch vermittelt und erprobt werden. Egal ob mit oder ohne Diagnose, so profitieren alle.
3
Damit werden Social-Media-Trends nicht zum Problem, sondern zum Gesprächsanlass: Jugendliche bringen Themen ein, Fachkräfte können darauf aufbauen. Unseren Erfahrungen nach zeigt sich: Wer die digitale Lebenswelt einbezieht, erreicht Jugendliche authentischer und stärkt gleichzeitig ihre Gesundheitskompetenz.
RESSOURCEN & ABSCHLUSS
ADHS ist mehr als ein Trend! Es ist ein ernstzunehmendes Störungsbild mit großem Einfluss auf den Alltag. Social Media kann dabei Türen öffnen, aber auch in die Irre führen. Entscheidend ist, dass Jugendliche Zugang zu verlässlichen Informationen und Unterstützungsmöglichkeiten haben.
Für Lehrkräfte und Workshopleitungen gilt: Sie müssen (und dürfen) Diagnosen nicht stellen. Aber sie können Räume öffnen, in denen Jugendliche ihre Erfahrungen einbringen, ohne abgewertet zu werden. Mit klaren Strukturen, ressourcenorientierten Methoden und der Bereitschaft, digitale Narrative ernst zu nehmen, lassen sich sowohl Betroffene als auch „mitschwingende“ Jugendliche stärken.
INFOKASTEN
RESSOURCEN, INFORMATIONEN UND QUELLEN
Information & Beratung:
Telefonseelsorge (0800-1110111 / 0800-1110222)
Wissenschaft & Hintergrund:
Praxis & Prävention:
Vielen Dank für euren Einsatz für eine bessere mentale Gesundheit von Schüler*innen!
SOCIAL PROOF REPORT
DER NEWSLETTER ZUR MENTALEN GESUNDHEIT JUNGER MENSCHEN
Der Social Proof Report ist Teil des Mental²-Kooperationsprojektes zwischen der Techniker Krankenkasse, Kopfsachen e.V. und Social Proof.