SOCIAL PROOF REPORT
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MENTALE
10/25
STÄRKE
Nüchtern betrachtet wirken für viele Jungs Psychologie und Therapie nicht wie „ihr“ Thema. In Studiengängen und Praxen sitzen überwiegend Frauen, ein Vakuum, in dem sich Jungs Orientierung anderswo holen. Online finden sie sie sofort: Mentale Stärke. Disziplin. Durchziehen. Menschen, die zeigen, wie sie trainieren, lernen, scheitern, wieder aufstehen.
Genau da setzen wir an. Dieser Report zeigt, wie „mentale Stärke“ online erzählt wird, was daran im Alltag wirklich hilft und wo es kippt. Wir nehmen euch mit in diese Welt, ordnen die Systematik und die Menschen dahinter und zeigen, wie man sinnvoll andockt.
RELEVANZ DES THEMAS
Es beginnt oft so: Ein Junge aus der 9. oder 10. Klasse steht plötzlich jeden Morgen eine Stunde früher auf, läuft „seine“ fünf Kilometer, trackt Schlaf, macht Calisthenics. In seiner WhatsApp-Gruppe droppt er Clips von Arda Saatci, „Deutschlands Goggins“, der sich mit Marathon-, Ultra- und „No-Excuses“-Challenges eine große Lauf-Community aufgebaut hat, zuletzt mit einem Projekt, bei dem er nach eigener Darstellung die Länge Japans läuft und das in Vlogs dokumentiert.
Für viele Jungs wirkt das wie eine Abkürzung zu Klarheit: Ziele setzen, hart arbeiten, dranbleiben. Der „Arda-Saatci-Effekt“: Disziplin wird greifbar, Leistung messbar, Zugehörigkeit spürbar. (Beispielhafte Einblicke in Ardas Inszenierung als Ultra-Projekt: YouTube und Insta-Reels; Reichweite und Erzählung: „I run the full length of Japan“, 2025.)
Warum trifft das einen Nerv? Weil an diesem „Vorhof“ erst einmal wenig verwerflich ist. Bewegung, Schlafrhythmus, Lernblöcke, klare Tagesstruktur und Vorbilder können offensichtlich gut tun. Jungen erleben Selbstwirksamkeit, gewinnen Ruhe im Kopf und tragen Routinen in ihre Peergroups. Genau deshalb lohnt es, hier ohne Abwehr einzusteigen.
Die offene Frage, der wir im Report nachgehen: Wo verläuft die Grenze, an der aus hilfreicher Struktur etwas Problematisches wird? Wo verschwimmt es, wenn Regeln starrer werden als das Leben, wenn Zugehörigkeit nur noch über Bewährung läuft oder wenn Leistung zur einzigen Währung gerät?
International sieht man zudem, wie männlich codierte Trends (#sigma, #grindset, „Monk Mode“, „Dopamine Detox“, „Looksmaxxing“) Milliardenaufrufe generieren und dabei zwischen Spaßkultur, Selbstoptimierung und problematischen Weltbildern changieren. Studien und Medienanalysen ordnen das Spektrum: von ironischer Meme-Ästhetik bis zu toxischer Aufladung („sigma masculinities“) und Körperfixierung („looksmaxxing“).
INFOKASTEN
WIE FUNKTIONIERT “MENTALE STÄRKE”-CONTENT AUF SOCIAL MEDIA?
Vorbilder wirken nahbar: Sie zeigen ihren Alltag beim Trainieren, Lernen und Ausruhen. Keine Predigt, sondern mitnehmen und zeigen.
Beweise statt Sprüche: Man sieht Trainingspläne, Essen, Schlaf, Rückschläge und Comebacks. So wird klar: Das ist machbar.
Lange Videos bauen Vertrauen auf: Vlogs, Streams und Podcasts erklären Hintergründe und Ziele.
Kurze Clips tragen die Highlights weiter: Reels und Shorts schneiden die besten Momente heraus und bringen sie in viele Feeds.
Es gibt eine erkennbare Reise: „Road to …“, Etappen und regelmäßige Updates machen Fortschritt sichtbar.
Fans helfen beim Verbreiten: Zuschauer schneiden Motivations-Videos und Zitat-Zusammenstellungen und teilen sie plattformübergreifend.
Gemeinschaft motiviert: Kommentare, Lauf-Apps, Gruppen und kleine Challenges laden zum Mitmachen ein und geben Anerkennung.
Einfache Vorlagen zum Nachmachen: „Day X“, Morgen-Check-in, Wochenziel. Kleine, klare Schritte senken die Einstiegshürde.
Werte werden vorgelebt: Disziplin, Respekt, Teamgeist und Humor entstehen durch das, was man sieht, nicht durch Regeln.
PSYCHOLOGISCHE EINORDNUNG
Wenn Jugendliche von „mentaler Stärke“ sprechen, meinen sie oft genau das: immer hart bleiben, durchziehen, keine Ausreden. Das ist verständlich, weil es Klarheit verspricht und sich nach Kontrolle anfühlt. Psychologisch trägt diese Lesart aber nur bis zu einem Punkt. Wir wissen aus der Forschung: Langfristig funktioniert nicht die Härte an sich, sondern wie gut jemand sich steuern und anpassen kann. Resilienz meint genau das: Ziele setzen, Druck aushalten, aber Tempo, Methode und Pausen so justieren, dass man nicht ausbrennt oder verletzt aussteigt.
Der Unterschied klingt klein, macht im Alltag aber viel aus. „Immer hart bleiben“ löst Probleme mit mehr Druck. Das klappt kurzfristig, kostet aber schnell Schlaf, Konzentration und Beziehungen. Resiliente Selbststeuerung fragt zuerst: Was ist das Ziel, was sind heute die Bedingungen, welche Variante bringt mich weiter? Mal ist das Vollgas, mal Technik üben, mal Pause machen, mal Hilfe holen. Disziplin bleibt wichtig, nur wird sie lenkbar. So entstehen die Effekte, die Jugendliche sich eigentlich wünschen: spürbarer Fortschritt, weniger Chaos im Kopf, mehr Verlässlichkeit über Wochen statt nur über einzelne Hero-Momente.
Kurz gesagt: Mentale Stärke als Härte ist die laute Version, die schnell wirkt und schnell kippt. Mentale Stärke als flexible Selbstregulation ist die leise Version, die seltener spektakulär, dafür stabil ist. Genau diese Unterscheidung brauchen wir, um die Online-Erzählung einzuordnen: Wir verstehen, warum „immer hart bleiben“ fasziniert, und zeigen zugleich die psychologisch sinnvollere Übersetzung, mit der Leistung und Gesundheit zusammengehen.
Mentale Stärke auf Social Media – wer prägt das Bild, was trägt, wo kippt es? Stell dir diese Welt als Vorhof vor. Hier wird nicht gepredigt, hier wird gezeigt. Kameras laufen beim Training, beim Essen, beim Schlafen, beim Scheitern und Neuansetzen. Aus der Nähe entsteht das Gefühl: Das ist machbar. Genau deshalb ziehen diese Formate. Sie geben Ordnung für Tage, die sich oft ungeordnet anfühlen.
Im Zentrum steht die Idee vom „Proof of Concept“. Vorbilder wirken zugänglich, weil sie ihren Prozess öffnen. Bei Ausdauerprojekten (z. B. Arda Saatçi) sieht man, wie Routine und Durchhalten tatsächlich aussehen. Das motiviert viele, kleine Versionen davon in den eigenen Alltag zu holen. Der Haken: Das Erfolgsrezept „beißen und durch“ passt nicht für alle. Wer die Extreme kopiert, landet schnell im Alles-oder-nichts. Und an der Spitze ist es oft einsam. Es fehlen Alternativen, wie man smart nachjustiert, statt nur noch härter zu drücken.
Ein paar Meter weiter im Vorhof wird Leistung organisiert. Bodybuilding-Inhalte (etwa bei Urs Kalecinski) zeigen System: Training, Ernährung, Schlaf, Coaching. Das ist nachvollziehbar und beeindruckend. Gleichzeitig schwingt ein Bild von Körper und Männlichkeit mit, das im Schulalltag wenig Platz lässt. Spätestens auf Wettkampfniveau wird aus Sport eine Extreme. Als Motivation für Bewegung kann das funktionieren. Als Norm taugt es nicht. Auch weil Body Dysmorphie in der Szene ein Thema ist und die harte Diätlogik sich kaum gesund in den Alltag übersetzen lässt.
Andere öffnen die Tür über lange Gespräche. Podcasts und Vlogs (zum Beispiel Tim Gabel) liefern Sprache und Werkzeuge für Disziplin, Lernen, Produktivität. Das ist hilfreich, solange es um Routinen, Prioritäten und realistische Ziele geht. Problematisch wird es, wenn daraus ein sehr neoliberales Machermodell wird: Jede und jeder ist seines Glückes Schmied, Punkt. In dieser Erzählung fallen diejenigen durch, die weniger Ressourcen, weniger Zeit, weniger Rückhalt haben. Die Grenze verläuft dort, wo Kontext verschwindet.
Dann gibt es Accounts, die basale Gesundheitsregeln zum Lifestyle aufdrehen: kalt duschen, rausgehen, schlafen, unkompliziert essen. Der Einstieg ist niedrigschwellig, der Effekt schnell spürbar. Viele finden darüber tatsächlich zurück in Bewegung. In Teilen dieses Spektrums ist es aber eskaliert: Pseudowissenschaft, esoterische Heilsversprechen, abwertende Frauenbilder und aggressive Sales-Funnels (prägnant bei der Roh-Gang). Anfangs klang es wie „Back to basics“, am Ende blieb oft nur noch die Ideologie. Hier hilft nur nüchternes Einordnen: Was davon ist ein sinnvoller Alltagstipp, was ist schlicht Quatsch oder sogar gefährlich.
Auf der internationalen Bühne steht das Extrem-Narrativ: über Grenzen gehen, Schmerzen als Test, null Ausreden (David Goggins). Das zündet, keine Frage. Es widerspricht aber dem, was Training und Psychologie langfristig empfehlen. Fortschritt entsteht durch Belastung und Erholung, nicht durch Erschöpfung als Auszeichnung. Dasselbe gilt für mentale Gesundheit: Pausen und Perspektivwechsel sind kein Zeichen von Schwäche, sondern Teil der Steuerung.
Und schließlich gibt es Formate, die Disziplin mit großer Weltdeutung mischen. Die Machersprache ist nahbar und gibt vielen das Gefühl, komplexe Themen endlich anfassen zu können. Gleichzeitig kippen einzelne Folgen oder Clips in steile Thesen, Vereinfachungen oder Falschinformationen, die ohne Gegencheck übernommen werden (siehe Hoss & Hopf). Genau hier lohnt sich die Verbindung aus Anerkennung („ich verstehe, warum das dich anspricht“) und Werkzeugen für einen schnellen Faktencheck.
Am deutlichsten wird die Kippkante dort, wo Stärke an Ausschluss gebunden ist. Gruppen, die Ordnung, Rituale und „Brüderlichkeit“ versprechen, liefern Zugehörigkeit – aber oft gegen Eintritt, mit starrem Männlichkeitsbild und wenig Raum für Ambivalenz (Das Rudel). Die Oberfläche klingt nach Sport, Schlaf, Ernährung, Gemeinschaft, also lauter sinnvollen Dingen. Hinten raus bleibt Exklusivität: dazugehören darf, wer schon drin ist oder zahlen kann. Stärke wird zur Türsteherlogik.
BEDEUTUNG FÜR DIE SCHULE
Warum landet das Thema im Klassenraum? Weil viele Schüler*innen ihren Tag längst an diesen Erzählungen ausrichten. Vorbilder zeigen Routinen, setzen Ziele, dokumentieren Fortschritt. Das wirkt wie ein Werkzeugkasten für Handhabbarkeit und taucht in Pausen, Chats, Sporthalle oder Ethikunterricht auf. Wenn Lehrkräfte hier nur mit Distanz reagieren, verpassen sie den Anschluss. Sinnvoller ist, zuerst zu verstehen, was daran entlastet: Struktur, Planbarkeit, Zugehörigkeit. Danach lässt sich behutsam klären, wo Regeln sinnvoll sind und wo sie starr werden. Im Unterricht lohnt der Blick auf Barrieren: Was ist realistisch mit wenig Geld, mit Nebenjob oder Geschwisterbetreuung? Wer das mitdenkt, verwandelt Exklusivität in Anschluss.
Gute Gespräche starten nicht bei „toxischer Männlichkeit“, sondern bei Erfahrungen, die in der Gruppe selbst vorkommen: Leistungsdruck, Schlafmangel, Geldsorgen, Ausgrenzung. Wer diese Lebenslagen anerkennt, kann im zweiten Schritt Brücken schlagen: von „Stärke als Durchhalten“ zu „Stärke als Steuern“, von Einzelleistung zu Team und Kontext, von Heldenmomenten zu nachhaltigen Routinen. So wird aus dem Online-Mythos eine alltagstaugliche Praxis, die Leistung und Gesundheit zusammen denkt.
Wichtig ist dabei, die Mechanik der Plattformen transparent zu machen, ohne Panik zu verbreiten. Ein kurzer Blick auf Feeds im Unterricht reicht oft: Warum bekomme ich „mehr vom Gleichen“, wenn ich zehn Clips zu Disziplin anschaue. Welche Signale belohnen die Apps. Diese Medienkompetenz klärt, warum extreme Inhalte sichtbarer wirken, ohne Jugendlichen das Gefühl zu nehmen, selbst entscheiden zu können.
Ergänzend lohnt eine nüchterne Gesundheitsbrille: Was ist ein vernünftiges Ziel für diese Woche. Was gehört zu Regeneration. Wo sind Supplement- und „Detox“-Versprechen schlicht Marketing.
RESSOURCEN & ABSCHLUSS
“Mentale Stärke”, wie sie von den genannten Online-Persönlichkeiten vorgelebt und propagiert wird, ist fast die logische Konsequenz, wenn traditionelle Männlichkeitsvorstellungen im psychologischen Bereich stattfinden. Wichtig ist: Auch wenn es für viele offensichtlich ist, dass dieser Umgang mit Emotionen und Gefühlen nicht nachhaltig ist, muss man die dahinterliegenden Bedürfnisse ernstnehmen.
Für Lehrkräfte und Workshopleitungen bedeutet das, die Jungen mit ihren Sorgen und Zielen nicht abzutun, sondern zuzuhören und auch zu spiegeln, dass man zuhört. Anschließend kann man Räume öffnen, in denen man sowohl auf Augenhöhe über die Sinnhaftigkeit und die Nachhaltigkeit der Methoden, als auch über die dahinterliegenden Männlichkeitsvorstellungen sprechen kann. So öffnen sich die Jugendlichen womöglich für Alternativen.
INFOKASTEN
RESSOURCEN, INFORMATIONEN UND QUELLEN
Reichweite & Nutzung:
So funktionieren Feeds:
Trends & Einordnung:
Looksmaxxing (ZDFheute): Selbstoptimierung bei jungen Männern – Risiken und pädagogische Anknüpfung.
Methodik für die Praxis:
Vielen Dank für euren Einsatz für eine bessere mentale Gesundheit von Schüler*innen!
SOCIAL PROOF REPORT
DER NEWSLETTER ZUR MENTALEN GESUNDHEIT JUNGER MENSCHEN
Der Social Proof Report ist Teil des Mental²-Kooperationsprojektes zwischen der Techniker Krankenkasse, Kopfsachen e.V. und Social Proof.