SOCIAL PROOF REPORT

SOCIAL PROOF REPORT

Haftbefehl einmal vor seiner physischen Veränderung und einmal danach in einem Bild.

HAFTBEFEHL x

11/25

SCHULE

Es gibt Momente, in denen Prävention uns nicht in Form eines Faltblatts begegnet, sondern als Netflix-Nummer-1-Film in den Feeds unserer Handys.
Die Doku „Babo – Die Haftbefehl-Story“ ist genau so ein Moment. Seit Ende Oktober 2025 ist sie auf Netflix verfügbar, dauert rund 90 Minuten und erzählt die Geschichte des Rappers Haftbefehl (Aykut Anhan) von der Kindheit im Offenbacher Hochhaus über Ruhm und Kokainabhängigkeit bis hin zum Beinahe-Absturz und Klinikaufenthalt. Die Doku erreichte innerhalb der ersten sechs Tage 4,1 Millionen Abrufe, Platz 1 der Netflix-Charts in Deutschland, Österreich und der Schweiz und Platz 4 in den weltweiten Charts der nicht-englischsprachigen Filme. (DIE WELT)

Ein sehr junger Haftbefehl in einem weißen Fleecepulli.

Für viele Jugendliche ist Haftbefehl keine abstrakte Figur, sondern Teil ihres Alltags: Seine Lines und Insider-Zitate tauchen in der Alltagssprache, auf Schulhöfen und in Social-Feeds immer wieder auf. Nun sehen sie denselben Künstler in einer Doku, die nichts beschönigt. Gezeigt werden jahrzehntelanger Kokainkonsum, massive körperliche und psychische Folgen, ein Suizidversuch, eine hochbelastete Familiengeschichte und ein Umfeld aus Szene, Management und Industrie, das lange an einem sichtbar kranken Menschen mitverdient. (Süddeutsche.de)

Parallel entsteht eine zweite Debatte: In Offenbach fordert der Stadtschülerrat, Haftbefehl und seine Lebensgeschichte im Unterricht zu behandeln, etwa in Deutsch, Musik oder Politik. Begründung: Seine Sprache und Themen spiegeln die Realität vieler Jugendlicher vor Ort besser als klassische Kanontexte. Das hessische Kultusministerium lehnt ab und verweist auf Gewalt, Sexismus, Antisemitismus und Drogenbezüge in seinen Texten. Ähnliche Forderungen tauchen in anderen Städten auf, zum Beispiel in Minden, wo Jugendliche sich Unterricht wünschen, der näher an ihrer Lebenswelt arbeitet. (Deutschlandfunk Nova)

Zwischen diesen Polen – Hype bei Jugendlichen, Skepsis vieler Erwachsener und der Frage, wem diese Geschichte eigentlich gehört – bewegt sich dieser Social Proof Report. Wir wollen weder den Rapper romantisieren noch die Doku verteufeln. Stattdessen fragen wir: Was macht diese Doku mit jungen Menschen? Was erklärt sie besser über Sucht, Trauma und Familie als viele klassische Kampagnen? Und wie können Lehrkräfte und Workshopleitungen das Thema so aufnehmen, dass es schützt, statt zu verklären?

RELEVANZ DES THEMAS

Warum lohnt es sich, dass sich Schulleitungen, Lehrkräfte und Workshopleitungen mit genau dieser Doku beschäftigen, obwohl sie sprachlich und inhaltlich weit weg ist von klassischen Unterrichtsmaterialien?

Zum einen, weil „Babo – Die Haftbefehl-Story“ dort stattfindet, wo Jugendliche ohnehin unterwegs sind. Ein Film, der in den Netflix-Top-10 landet, braucht keinen Plakatanschlag im Schulflur. Er wird von Algorithmen direkt empfohlen, taucht in Storys, For-You-Pages und Gruppenchats auf und wird durch Creator*innen in Shorts, Reels und Reactions weiterverarbeitet. In dieser Logik ist die Doku selbst eine Form von Sucht- und Mental-Health-Prävention, nicht, weil sie als Kampagne konzipiert wurde, sondern weil sie emotional erlebbar macht, was jahrzehntelanger Konsum, unbehandeltes Trauma und familiäre Überforderung mit einem Menschen machen. Viele Jugendliche beschreiben sie genau deshalb als „abschreckend“, obwohl sie gleichzeitig eine Figur zeigt, die sie als „Haftbefehl“ kennen und feiern. (DIE WELT)

Zum anderen bündelt die Doku Themen, die in Schulen und Workshops ohnehin eine Rolle spielen, aber selten so verdichtet vorkommen: psychische Erkrankungen, Suizid in der Familie, Suchtverläufe, Gewalt, Armut, Migrationserfahrungen, Rassismus, Männlichkeitsbilder, Loyalität und Verrat im Freundeskreis, Leistungsdruck in der Musikindustrie.

Im öffentlichen Echo wurde viel über Drogen und „Star-Kult“ gesprochen, aber vergleichsweise wenig darüber, wie Herkunft, strukturelle Benachteiligung und fehlende niedrigschwellige Hilfen diese Biografie mitprägen.

Gerade Jugendliche mit eigener oder familiärer Migrationsgeschichte erleben hier eine Nähe, die in klassischen Unterrichtsstoffen selten ist. Gleichzeitig sehen sie, wie ihre Lebensrealität in der großen Öffentlichkeit verhandelt, aber nicht immer von ihnen selbst erzählt wird. (Süddeutsche.de)

Für die Arbeit mit jungen Menschen ist das ein Spannungsfeld und eine Chance zugleich. Sprache, Gewaltbilder und manche Textinhalte sind klar abzulehnen. Gleichzeitig wäre es eine verpasste Gelegenheit, den Film nur als „Problemstoff“ zu sehen und ihn aus dem Unterricht herauszuhalten, während er im Klassenchat längst allgegenwärtig ist. Dieser Report versteht die Haftbefehl-Doku daher als Prüfstein für zeitgemäße Prävention: Können wir Inhalte, die Jugendliche freiwillig konsumieren, so aufbereiten, dass sie zu Türöffnern für Gespräche über Sucht, mentale Gesundheit, Migration und Unterstützungssysteme werden, statt zu einem weiteren Reizthema im Kulturkampf zwischen „Jugendkultur“ und „Werten“?

Genau hier setzt Social Proof im Rahmen des Projekts Mental² an. In unserem YouTube-Format haben wir die Doku bereits psychologisch eingeordnet, von genetischer Veranlagung und Familie über kindliche Überlebensstrategien bis hin zur Rolle einer Industrie, die an einem suchtkranken Künstler mitverdient. Dieser Report knüpft daran an, ergänzt die wissenschaftliche Perspektive, bezieht die migrations- und bildungspolitischen Debatten mit ein und übersetzt all das in Impulse für Unterricht und Workshops. Unser Ziel ist es, Lehrkräfte und Workshopleitungen in eine Position zu bringen, in der sie sagen können: „Ich muss Haftbefehl nicht gut finden, aber ich verstehe, warum diese Doku für meine Schüler*innen wichtig ist. Und ich weiß, wie ich sicher und konstruktiv darüber sprechen kann.“

PSYCHOLOGISCHE EINORDNUNG

Wenn Jugendliche über die Haftbefehl-Doku sprechen, fallen schnell große Worte: „Der war verloren“, „Der hatte gar keine Chance“, „Der ist einfach süchtig“, „Der ist doch selber schuld“. Psychologisch lohnt es sich, einen Schritt zurückzugehen und genauer hinzuschauen, was die Doku zeigt und was sie über Trauma, Sucht und Familie erzählt.

Familiengeschichte, Trauma und die Frage nach dem „Schicksal“

Die Doku macht früh klar, dass Haftbefehls Geschichte nicht bei einem Rap-Video beginnt, sondern in einer Familienbiografie, in der Depression, Suizid, Sucht, Gewalt und ökonomische Unsicherheit über Generationen vorkommen. Der Suizid des Vaters, Geheimnisse um seinen Lebensstil, Spielsucht, emotionale Abwesenheit, ständige Überforderung: All das ist der Boden, auf dem der junge Aykut aufwächst. (Süddeutsche.de)

Viele Jugendliche stellen danach eine sehr nachvollziehbare Frage: Bin ich mein Erbe? Wenn es in meiner Familie psychische Erkrankungen, Sucht oder Gewalt gibt, ist es dann nur eine Frage der Zeit, bis ich genauso ende? Die Forschung zeichnet hier ein differenziertes Bild. Zwillings- und Familienstudien schätzen die Erblichkeit von Major Depression meist im Bereich von etwa 30 bis 50 Prozent, es gibt also einen klaren genetischen Anteil, aber keinen determinierten Verlauf. (PMC)

Entscheidend ist das Zusammenspiel von Anlage und Umwelt. Neben genetischer Verwundbarkeit spielen Armut, Diskriminierung, unsichere Wohnverhältnisse, Gewalt und fehlende soziale Unterstützung eine große Rolle für die Entstehung und Chronifizierung psychischer Störungen. (PubMed)

In der Doku sehen wir eine sehr ungünstige Kombination von Risikofaktoren. Familiäre Vorbelastung trifft auf ein Umfeld, in dem finanzielle Unsicherheit, Kriminalisierung, Rassismuserfahrungen und fehlende Unterstützung zusammenkommen. Für viele Jugendliche mit Migrations- oder Armutserfahrung wirkt das vertraut. Studien und Sozialberichte zeigen, dass Kinder und Jugendliche aus einkommensarmen Haushalten deutlich häufiger gesundheitlich belastet sind und schlechtere Chancen auf frühzeitige Hilfe haben. (PubMed)

Die Doku erklärt diese Zusammenhänge nicht in Lehrbuchsprache, macht sie aber sichtbar. Darin liegt ihr Wert für die psychologische Einordnung: Sie bietet eine konkrete Geschichte, an der sich abstrakte Begriffe wie „Vulnerabilität“, „Belastungsfaktoren“ und „Resilienz“ festmachen lassen.

Haftbefehl und Aykut: zwei Rollen, keine „gespaltene Persönlichkeit“

Nach der Doku taucht online immer wieder die Formulierung auf, Haftbefehl habe „zwei Persönlichkeiten“. Gemeint ist die Figur „Haftbefehl“ als laute, harte, unverwundbare Rapper-Persona und der private Aykut, der mit Schuldgefühlen, Panik, Überforderung und Vaterrolle kämpft. Die Doku spielt sichtbar mit diesem Kontrast: Studio, Bühne und Hochhaus wechseln sich ab, Auftritte und Zusammenbrüche stehen nebeneinander. (Süddeutsche.de)

Aus klinischer Sicht handelt es sich dabei nicht um eine „gespaltene Persönlichkeit“ im Sinne einer seltenen Identitätsstörung. Viel eher ist es eine typische Strategie. Menschen, die früh Verantwortung übernehmen mussten oder Gewalt und Vernachlässigung erlebt haben, entwickeln häufig Rollen, in denen sie stark, souverän und unberührbar wirken. Solche Rollen können kurzfristig schützen, besonders in Kontexten, in denen Schwäche zeigen als gefährlich oder peinlich erlebt wird.

Im Jugendalter kann das sogar gut funktionieren. Wer mit 13 oder 14 „hart“ wirkt, wird in bestimmten Milieus ernster genommen oder in Ruhe gelassen. Im Erwachsenenalter kippt dieselbe Strategie schnell ins Problematische. Man lässt niemanden wirklich an sich heran, spricht nicht über Gefühle, kompensiert mit Konsum oder Überarbeitung und hält nach außen ein Bild aufrecht, während innen alles brennt.

Für Jugendliche ist das ein interessanter Anknüpfungspunkt, weil viele die Dynamik kennen, wenn auch in anderen Formen: als Social-Media-Persona, als „coole“ Rolle in der Clique oder als Familienfunktion nach dem Motto „Ich bin die Person, die immer funktionieren muss“. Die Doku kann helfen, darüber zu sprechen, was diese Rollen schützen und ab wann sie anfangen, weh zu tun.

Kindliche Überlebensstrategien, die später schaden

Die Doku zeigt mehrere Strategien, mit denen der junge Aykut versucht, seine Situation auszuhalten. Eine davon ist der frühe Konsum von Kokain. Aus Sicht eines Erwachsenen ist das ein massiver Risikofaktor, aus Sicht eines überforderten Jugendlichen wirkt es möglicherweise wie eine schnelle Möglichkeit, Schmerz, Angst oder Erschöpfung weniger zu spüren.

Eine andere Strategie ist, früh „alt“ zu werden, Verantwortung für Geschwister zu übernehmen, hart zu sein und Gefühle konsequent wegzuschieben.

Eine dritte Strategie ist, das Erlebte in Texte zu gießen. Songs, die wie Tagebucheinträge funktionieren, greifen über Jahre hinweg immer wieder den Suizid des Vaters, den Konsum und das schnelle Erwachsenwerden auf. (Süddeutsche.de)

Ein kleiner Plastikbeutel, wiederverschließbar, umgekippt mit weißem Pulver darin, als auch herausgefallen.

In der Psychologie spricht man hier von Copingstrategien. Kinder und Jugendliche entwickeln Muster, um mit Überforderung und Ohnmacht umzugehen. Manche Muster sind kurz- und langfristig hilfreich, zum Beispiel künstlerischer Ausdruck oder Schreiben. Andere sind als Notlösung verständlich, auf Dauer aber sehr schädlich, etwa Substanzkonsum oder dauerhafte Selbstüberforderung. Forschung zu Adverse Childhood Experiences (ACEs) zeigt, dass belastende Kindheitserfahrungen wie Gewalt, Vernachlässigung, psychische Erkrankungen oder Sucht in der Familie das Risiko für spätere Substanzgebrauchsstörungen deutlich erhöhen. (ScienceDirect)

Gerade bei Menschen mit frühen Traumata ist es zentral, diese Strategien später zu erkennen und ihnen den Status zu geben, den sie eigentlich haben: „Du hast damals getan, was du konntest, um zu überleben. Das war wichtig, aber heute brauchst du andere Lösungen.“ Moderne traumainformierte Ansätze betonen genau diese Kombination aus Anerkennen der alten Muster und dem Aufbau neuer Bewältigungsformen, die zu einem stabilen Erwachsenenleben passen. (PubMed) Die Doku erzählt diesen therapeutischen Prozess nicht aus, macht aber deutlich, wie lange alte Muster weiterlaufen können, wenn niemand da ist, der sie gemeinsam mit einer Person anschaut.

Sucht als Krankheit im System, nicht nur als „Fehlentscheidung“

Ein weiterer Kern der Doku: Sie zeigt Sucht nicht als einzelne „dumme Entscheidung“, sondern als etwas, das sich über Jahre entwickelt, körperlich und psychisch verfestigt und durch ein Umfeld stabilisiert wird. Haftbefehl spricht davon, rund 25 Jahre Kokain konsumiert zu haben. Bilder in der Doku zeigen ihn körperlich deutlich gezeichnet, während um ihn herum weiterhin Konzerte geplant, Deals gemacht und Shows gespielt werden. (Süddeutsche.de)

Suchtforschung beschreibt seit langem, dass Substanzabhängigkeit nicht isoliert entsteht, sondern Teil sozialer Netzwerke, ökonomischer Interessen und kultureller Szenen ist. Armut, Gewalt, Diskriminierung und fehlende Hilfsangebote erhöhen das Risiko, dass problematischer Konsum entsteht und chronisch wird. (PubMed) In manchen Milieus gehört Konsum zum Normalbild, wird aktiv mitgetragen oder ignoriert, solange jemand liefert. Genau das zeigt die Doku, wenn ein suchtkranker Künstler trotz offenkundig schlechter Verfassung weiter auftreten soll, weil viele Menschen direkt oder indirekt von seinem Erfolg leben.

Für die Arbeit mit Jugendlichen ist das ein wichtiger Perspektivwechsel. Die zentrale Frage ist nicht nur „Warum hat er sich so entschieden?“, sondern auch „Wer profitiert davon, dass er nach außen weiter funktioniert?“ und „Wie sieht das in unseren eigenen Kontexten aus, etwa in Party-Szenen, Social-Media-Bubbles oder Leistungsumfeldern, in denen Selbstüberforderung normal ist?“. Die Doku liefert Bilder, an denen sich solche Gespräche konkret aufhängen lassen.

Eigene und fremde Grenzen: Einweisung, Hilfe, Zwang

Eine besonders eindrückliche Szene ist die Einweisung in eine Klinik, die der Bruder organisiert. Er übernimmt Verantwortung, trifft als Vormund eine Entscheidung gegen den erklärten Willen von Haftbefehl und rettet ihm so vermutlich das Leben. Für viele Jugendliche wirft das Fragen auf: Darf man das? Warum hat das niemand früher gemacht? Wieso ist es so schwer, jemanden zu schützen, der sich selbst schadet? (Süddeutsche.de)

In Deutschland sind die rechtlichen Hürden für eine Unterbringung gegen den eigenen Willen bewusst hoch. Eine Zwangseinweisung ist nur bei akuter Eigen- oder Fremdgefährdung möglich und erfordert ärztliche Einschätzung, dokumentierte Abläufe und richterliche Kontrolle.

Das soll vor Missbrauch und Willkür schützen, führt aber auch dazu, dass Menschen manchmal erst sehr spät Hilfe bekommen, wenn der Leidensdruck schon extrem ist. Angehörige stehen dann zwischen Sorge, Ohnmacht und der Angst, Grenzen zu überschreiten.

Im pädagogischen Kontext braucht es keine juristischen Detailseminare, sondern ein Grundverständnis: Es gibt Gründe, warum es so schwer ist, andere zu ihrem Glück zu zwingen. Und es gibt niedrigschwellige Wege, wie Jugendliche reagieren können, wenn sie sich um jemanden sorgen, zum Beispiel Gespräche suchen, Vertrauenspersonen einbeziehen oder professionelle Hilfsangebote ansprechen. Die Szene in der Doku kann ein Einstieg sein, um über Warnsignale, Hilfsstrukturen und die eigenen Grenzen in Freundschaften zu sprechen.


Migration, Klasse und die blinden Flecken der Debatte

Auch wenn die Doku es nicht ständig ausspricht, erzählt sie eine Migrations- und Klassenerfahrung. Eine Familie mit türkisch-kurdischen Wurzeln, ein Aufwachsen im Hochhaus in Offenbach, Erfahrungen mit Rassismus, Polizeikontrollen, ständiger Unsicherheit in Bezug auf Zugehörigkeit und Anerkennung. Im öffentlichen Echo wurde viel über Drogen, Gewalt und „Gangster-Rap“ gesprochen, deutlich weniger darüber, wie Herkunft, Armut und strukturelle Benachteiligung diese Biografie mitschreiben. (Süddeutsche.de)

Forschung zu sozialen Determinanten der psychischen Gesundheit zeigt, dass Diskriminierung, soziale Ausgrenzung und ökonomische Unsicherheit das Risiko für psychische Störungen deutlich erhöhen, gerade bei jungen Menschen und Menschen mit Migrationsgeschichte. (PubMed) Gleichzeitig sind Unterstützungsangebote für diese Gruppen oft schwerer zugänglich oder kulturell wenig anschlussfähig.

Für Jugendliche mit Migrationshintergrund ist die Doku deshalb ambivalent. Einerseits sehen sie eine Person, deren Sprache, Herkunft und Biografie in Teilen ihrer ähnelt. Andererseits erleben sie, dass genau diese Geschichte in großen Medien, von überwiegend weißen Kommentatorinnen und politischen Akteurinnen verhandelt wird, ohne dass strukturelle Fragen im Mittelpunkt stehen.

Die Frage „Wer erzählt unsere Geschichten und mit welchem Fokus?“ schwingt mit, auch wenn sie nicht immer ausgesprochen wird.

Im schulischen Kontext lässt sich genau hier ansetzen. Die Doku kann genutzt werden, um über Chancen, Barrieren und Unterstützungswege in einem vielfältigen Bildungssystem zu sprechen: Wer bekommt früh Hilfe, wer nicht? Welche Rolle spielen Name, Adresse, Pass oder Akzent dabei, wie ernst Sorgen genommen werden? Und was müsste sich ändern, damit Geschichten wie die von Haftbefehl nicht als Ausnahmefigur im Rampenlicht enden, sondern als Beispiel für einen frühen Zugang zu Hilfe, Sicherheit und Teilhabe?

Der Google-Maps-Ausschnitt zu Offenbach am Main.

BEDEUTUNG FÜR DIE SCHULE

Für die Arbeit in Schulen und Workshops bedeutet die Doku nicht, dass ab morgen jede Klasse den Film komplett schauen sollte. Sie zeigt aber sehr deutlich, welche Zutaten zeitgemäße Prävention braucht und wie pädagogische Fachkräfte mit Inhalten arbeiten können, die Jugendliche ohnehin beschäftigen.

Ein erster Lernpunkt ist das Kontroversitätsprinzip. Wo eine Debatte in der Gesellschaft existiert, sollte sie auch im Unterricht sichtbar sein. Genau das betonen Leitlinien der politischen Bildung: Schülerinnen und Schüler sollen lernen, sich zu strittigen Themen eine eigene Meinung zu bilden, statt nur die vermeintlich richtige Position präsentiert zu bekommen. (Murray State Digital Commons) Die Frage, ob Haftbefehl im Unterricht behandelt werden sollte, ist dafür ein gutes Beispiel. Einige Jugendliche fordern das aktiv und begründen es mit ihrer Lebenswelt, Kultusministerien reagieren skeptisch. Statt diese Kontroverse vor der Tür zu lassen, kann sie zum Ausgangspunkt werden: Was spricht dafür, was dagegen, welche Bedingungen bräuchte es für eine verantwortliche Nutzung, wo liegen persönliche Grenzen von Lehrkräften und Jugendlichen?

Zweitens zeigt die Doku, wie wertvoll es ist, mit Ausschnitten zu arbeiten, die emotionale Reaktionen auslösen, und danach Raum für Einordnung zu geben. Präventionsforschung empfiehlt, Jugendliche nicht nur zu informieren, sondern sie aktiv einzubeziehen, an ihren Erfahrungen anzuknüpfen und gemeinsam Handlungsoptionen zu erarbeiten. Programme, die interaktiv sind, persönliche Kompetenzen stärken und jugendliche Lebenswelten ernst nehmen, schneiden in Evaluationen besser ab als reine Frontalaufklärung. (PMC)

Drittens ist wichtig, die migrations- und klassenspezifische Dimension mitzudenken. Die Geschichte eines Rappers aus Offenbach, der Rassismuserfahrungen macht, in einem marginalisierten Stadtteil aufwächst und mit strukturellem Ausschluss konfrontiert ist, eignet sich nicht nur für Suchtprävention. Sie öffnet auch Gespräche über Zugehörigkeit, Rassismus und ungleiche Zugänge zu Hilfe. Fachstellen wie ufuq.de entwickeln seit Jahren Materialien dazu, wie Rap, Social Media und Religion in pädagogischen Kontexten so bearbeitet werden können, dass sie weder romantisiert noch stigmatisiert werden. (ufuq.de)

Die Doku kann hier als Spiegel dienen, in dem sich manche wiederfinden und andere lernen, zuzuhören.

Viertens braucht es klare pädagogische Leitplanken. Dazu gehört, Altersfreigaben ernst zu nehmen, Triggerwarnungen zu geben, Freiwilligkeit zu ermöglichen und alternative Aufgaben bereitzuhalten, wenn einzelne Szenen belastend sind. Es gehört dazu, Hilfsangebote am Ende einer Stunde sichtbar zu machen, etwa Schulsozialarbeit, Beratungsstellen oder anonyme Onlineangebote. Und es gehört dazu, die Doku nicht unkommentiert stehen zu lassen, sondern gemeinsam zu klären, was ablehnenswert bleibt, auch wenn man jemandes Geschichte versteht: Gewalt, Antisemitismus, Sexismus, Drogenverherrlichung.

Die Kunst besteht darin, beides gleichzeitig zu halten: Empathie für die Biografie und eine klare Haltung gegenüber problematischen Inhalten.

Für Social Proof und das Projekt Mental² bedeutet das konkret: Workshops, in denen die Haftbefehl-Doku eine Rolle spielt, sollten immer zweigleisig fahren. Auf der einen Schiene steht die psychologische Einordnung, wie wir sie in unserem YouTube-Video vornehmen: Trauma, Sucht, Familie, Hilfesysteme. Auf der anderen Schiene steht die gesellschaftliche Einbettung: Migration, Armut, Rassismus, Musikindustrie, Stadtteil. Wenn diese Ebenen zusammen gedacht werden, kann aus einem Film, der ohnehin in den Feeds läuft, ein Lernraum werden, in dem Jugendliche sich selbst und ihre Umgebung besser verstehen.

Schwarz.-weiß Foto von Haftbefehl, der direkt und bin ernstem Blick in die Kamera schaut.

RESSOURCEN & ABSCHLUSS

Dieser Social Proof Report versteht die Haftbefehl-Doku deshalb als Spiegel und Werkzeug zugleich. Als Spiegel, der zeigt, wie eng persönliche Krisen mit gesellschaftlichen Strukturen verwoben sind. Und als Werkzeug, mit dem Lehrkräfte und Workshopleitungen Gespräche eröffnen können, die sonst oft nur im Klassenchat oder auf dem Pausenhof stattfinden.

Wenn am Ende dieses Prozesses Lehrkräfte sagen können: „Ich muss Haftbefehl nicht mögen, aber ich verstehe, warum diese Doku meine Schüler*innen so bewegt, und ich weiß, wie ich verantwortungsvoll damit arbeiten kann“ und wenn auch nur ein Teil der Jugendlichen, die sich in der Geschichte wiedererkennen und früher Hilfe sucht, dann hat die Doku mehr erreicht als viele Plakatkampagnent.

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Der Social Proof Report ist Teil des Mental²-Kooperationsprojektes zwischen der Techniker Krankenkasse, Kopfsachen e.V. und Social Proof.

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